9. November 2015

222

Der Schlummer verlässt mich, weil mich jemand an der Schulter rüttelt.
Ich klappe die Augen auf und erkenne Miloš. Oh, denke ich, Gott schickt Miloš, um mich vor dem Sonnenbrand zu bewahren? Ich wusste gar nicht, dass die beiden so eine innige Bezie­hung pflegen. Ich versuche aufzustehen, was nicht so einfach ist. Mein linkes Bein ist unter mir eingeschlafen und der Sand ist hier besonders tief. Miloš streckt mir die Hand hin und hilft mir auf. Dann gibt er mir eine Flasche Mineralwasser. „Warst du die ganze Nacht hier?“, fragt er.
Erst mal muss ich mich setzen. Die Kopfschmerzen sind wieder da. Oder noch nicht weg. Ich trinke einen langen Zug, obwohl das Wasser widerlich lauwarm ist.
„Nee. Ich hab im Garten gepennt. Irgendwann war es da zu laut.“
„Du hast im Garten gepennt?“, fragt er, als habe er nicht richtig verstanden.
„Ja, warum?“, will ich wissen.
Er grinst. „Du hast gesagt, du schläfst immer nackt. Immer?“
Vermutlich werde ich knallrot, jedenfalls ist mir auf einmal heiß. „Ja, immer.“
Jetzt lacht er und streichelt mir über den Kopf. „Hat dich jemand gesehen?“
Ich nehme meinen Kopf beiseite und hebe die Schultern, „Glaub nicht.“
In diesem Moment biegen leider die Mieter des Häuschens um die Ecke und möchten sich darin und davor ausbreiten. Also verziehen wir uns auf die nächste Bank, die sich am Ende des Plankenwegs aus den Dünen befindet. Die Bank ist aus Joghurtbechern und anderem Plastikmüll gefertigt. Ich versuche die Kopfschmerzen wegzutrinken. Vielleicht hab ich mich auch verlegen, in meinem Nacken klemmt mal wieder irgendwas.(103)
Miloš schaut raus auf die Wellen. Irgendwann sagt er: „Dersummeroog ist eine sehr schöne Insel. Ich verstehe, warum du hier glücklich bist. Und es ist gut, dich zu kennen. Du bist mein Freund.“
Geht das jetzt immer so weiter mit seinen sentimentalen Anwandlungen? Oder hat er zu viel Restalkohol im Blut? Das kann ich mir bei ihm kaum vorstellen. Ich habe ihn noch keinmal so richtig besoffen erlebt – was allerdings damit zusammenhängen kann, dass ich, wenn er besoffen ist, schon längst unterm Tisch liege.
„Es war ein guter Tag, an dem wir das erste Mal mit der Kaap Hoorn gefahren sind. Ich habe an dem Tag erkannt, wie du denkst und fühlst. Ich habe dein Herz erkannt. Das war wich­tig für mich.“ Er macht eine kurze Pause, fügt „Sehr wichtig“ hinzu und schließt: „Es war ein guter Tag, an dem ich dich getroffen habe.“
Darauf fällt mir nun erst recht nichts mehr zu sagen ein. Ich wusste zwar, dass er mich mag, das hat er ja auch gestern Abend in den Dünen gesagt, aber dass es ihm dermaßen ernst ist mit der Freundschaft … Die Insel scheint ihm ziemlich nahe zu gehen, denn zuhause hätte er so was garantiert nicht gesagt!
Miloš nimmt mein völlig verblüfftes Schweigen zum Anlass, weiter zu reden. „Ich habe eine Heimat gefunden. Ohne dich wäre das nicht gelungen. Du hast mir die Sprache beigebracht.“
„Oh, ähm … bitte“, stammele ich verlegen und endlich kommt mir wieder was in den Sinn: „Aber eigentlich war es doch Cokko, der dir geholfen hat, unsere Sprache zu lernen“, wende ich ein, „Schließlich bin ich ja dein Kumpel und nicht dein Lehrer!“
„Das ist richtig. Aber du hast angefangen. Du hast ganz normale Sätze zu mir gesprochen, egal ob ich etwas verstehe oder nicht. Andere Leute reden, als wäre man taub oder blöd. Und ohne dich hätte ich Cokko nie getroffen.“
Besagter verhindert mit seinem Erscheinen, dass es zu weiteren Bekenntnissen kommt. „Na, Brüderchen? Ausgeschlafen?“, pflaumt er mich an. Er pfeift auf zwei Fingern, dass mir fast die Ohren abfallen und wie ein artiger Hund kommt kurz darauf Pieter zu uns getrabt.
„Gut“, sagt Miloš und klingt überhaupt nicht mehr so gefühlsduselig wie gerade noch. „Alle komplett. Was machen wir jetzt?“
„Schwimmen gehen und dann was essen“, schlägt Cokko vor.

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