4. Juli 2015

107

Schließlich haben wir es aber an Bord geschafft und suchen nun nach einem Plätzchen, um unser Gepäck für die 1½ Stunden dauernde Überfahrt abzustellen, ohne dass alle Leute darüber stolpern.
Allerdings gibt es Aufgaben, die leichter umzusetzen sind, denn das Schiff ist gestopft voll mit jungen und alten Leuten, Männern, Frauen, Kindern, Hunden, Koffern und Taschen und dazwischen stehen Fahrräder, Handkarren, Kinderwagen und Rollstühle herum.
„Hey, voll gut, dass wir uns so viel Zeit gelassen haben“, mosert Cokko mich an, „Sonst hätten wir vielleicht noch einen Sitzplatz bekommen. Aber nein, du musstest ja so lange draußen rumstehen.“
Ich beachte den Einwand nicht. Mitten im Gang steht einer dieser sportlichen dreirädrigen Kinderwagen und wie bekannt sein dürfte, mag ich Kinder gerne. Ich gehe hin und beuge mich über das halboffene Verdeck. Im Wagen liegt ein Baby von allerhöchstens drei Monaten Lebensalter, und es guckt mich mit seinen großen Augen an. Vielleicht hat es Angst, denn gerade legt die Fähre mit gewaltigem Röhren und Rumpeln ab, es schaukelt auch ziemlich. Weil ich mich nicht sofort in seine Mama verwandele, verzerrt es sein Gesichtchen und bricht in herzzerreißendes Geschrei aus. Ich fasse nach dem Griff des Kinderwagens und versuche, die schlimmsten Stöße des schwankenden Schiffes abzufangen; allzu große Erfolge kann ich leider nicht verzeichnen.
Ich mache mir allmählich Sorgen, weil sich weit und breit keine Mama blicken lässt. Mamas haben eine wundervolle Gabe: Sie kommen, und die Welt ist wieder in Ordnung. Manchmal denke ich, es sollten mehr Mamas in die Politik gehen, vielleicht klappt der Trick da auch. Es würde alles viel einfacher machen und eine Menge Kriege verhindern.
Mitten in meine großartigen Gedanken zur Verbesserung des weltpolitischen Klimas stürzt eine Frau auf mich und den Kinderwagen zu, faucht mich an, was mir einfalle und reißt zugleich das Kind an ihren mächtigen Busen. Abrupt verstummt das Kreischen.
Ich will die Gelegenheit nutzen, mein Handeln zu erklären, doch die Frau unterbricht mich: „Ach, das bist ja du!!“
„Na klar bin ich das“, rechtfertige ich mein Dasein, denn wer sollte ich sonst sein? Zugleich versuche ich, mich an die Frau zu erinnern. Scheint so, dass wir uns kennen – bloß woher?
Sie ist durchschnittlich groß und pummelig, hat braunes kurzes Haar und fängt nun an, mich schallend auszulachen: „So wie du mich anguckst, überlegst du gerade, wo wir uns zuletzt getroffen haben, stimmt’s?“
Ich nicke, weil mir sonst nichts zu sagen einfällt.
„So jung und schon dermaßen vergesslich“, lästert sie. „Erinnere dich mal an letzten Sep­tember, da sind wir mit deinem Schiffchen gesegelt.“ Ihr Baby bekommt einen Schnuller und nuckelt zufrieden.
Mein Hirn fängt an zu rattern. Schließlich gebe ich „Mein Personengedächtnis ist nicht besonders gut“ als Ausrede an, weil alles Rattern nichts bringt.
Kopfschüttelnd guckt sie mich an. „Das gibt’s doch gar nicht. Wir hatten einen lustigen Tag zusammen und du vergisst mich einfach“, lacht sie mich aus. „Ich heiße Cora. Na, kommt die Erinnerung?“
Jetzt hat mein Hirn leichtes Spiel. Cora ist diejenige, die mir bei meinem Sonderurlaub im September so vortrefflich auf den Füßen rumgetrampelt hat, Stichwort reife Männer. Ich bin zwar nicht besonders nachtragend (zumindest denke ich das von mir), aber meine Wieder­sehensfreude hält sich in Grenzen, Baby hin oder her.
„Warum treffe ich dich eigentlich hier auf der Fähre? Ist dein Schiff kaputt?“, fragt sie in meine Gedanken hinein.
„Nee. Im Winter segele ich nie ins Watt oder auf dem IJsselmeer, das ist zu gefährlich. Es macht auch nicht besonders viel Spaß, weil es meistens kalt ist. Außerdem ist ja auch mein Bruder mit dabei. Ihm hat’s im Herbst so gut auf der Insel gefallen, dass er sich die Dersum­merooger Silvesterpartys auf keinen Fall entgehen lassen wollte“, erzähle ich, ohne dabei allzu sehr ins Detail zu gehen. Wenn sie das Baby nicht adoptiert hat, heißt das, dass sie im Septem­ber im ungefähr sechsten oder siebten Monat schwanger gewesen ist. Dafür war sie ja noch fix unterwegs!

Keine Kommentare: