Ich habe nicht drei, sondern vier Halbbrüder, rechne ich zusammen. Das kleine ABC und noch einen. Diesen Haufen Neuigkeiten muss ich erst mal verdauen. Ich halte den ungefähr 20-Jährigen eine Armeslänge entfernt, um ihn eingehend betrachten zu können.
Der ist auch groß und schlank wie ich, stelle ich fest. Und er hat dieselbe Haarfarbe, blond mit dunkel- und gold- und honigblond, und er trägt sie lang!! Und wenn sich das nicht nach einer total haltlosen Übertreibung anhören würde, könnte ich mich fast zu der Aussage hinreißen lassen, dass dieser Cornelius aussieht wie ich mit ungefähr zwanzig.
Das ist Wahnsinn, wir sind doch keine Zwillinge! Und wir haben unterschiedliche Väter! Ich habe wohl einen Fehler gemacht, dass ich nie ein Foto von Lucy, meiner (nein, unserer) Mutter haben wollte, sonst hätte ich gewusst, dass ich ihr vielleicht ähnlich sehe, denn irgendwo muss die Ähnlichkeit zwischen Cornelius und mir ja herkommen.
Eigentlich hat er sich einen ziemlich schlechten Zeitpunkt ausgesucht, um mich kennen zu lernen, denn ich wollte seit einer Viertelstunde unterwegs sein. Ich gucke zur Armbanduhr, dann zu meinem bis dato unbekannten Bruder und merke, dass er mich unsicher und irgendwie lieb anguckt. Dass er zugleich versucht, die beiden Regungen mit einem möglichst unberührten Gesichtsausdruck zu überspielen, löst bei mir einen plötzlichen Anflug von Beschützerinstinkt aus. Gleich hinterher kommt ein rettender Einfall und ich frage: „Hast du für die nächsten Tage schon was geplant?“
„Ich wollte dich nur erst mal finden und dann weiter planen. Störe ich dich?“
„Nein. Ich wollte Freunde besuchen, aber wenn du sowieso nichts anderes vor hast, was hältst du davon, wenn du einfach mitkommst?“
Dieses Mal sagt Cornelius nichts und ich erkläre: „Ich muss mich ein bisschen nach dem Wetter richten, deswegen hab ich eben gesagt, dass ich es eilig habe. Solange es da oben so gut aussieht, muss ich das nutzen.“
Sein Blick folgt meinem Finger zum Himmel, dann guckt er wieder zu mir und fragt: „Hast du ein Cabrio?“
Lachend berichtige ich seine Vorstellung: „Nee, eine Lemmeraak.“ Ich und ein Cabrio, diese Vorstellung ist wirklich ulkig. Helena hätte es sicher gefallen, wenn ich ein Cabrio gehabt hätte. Sie fand es doof, dass ich kein Auto habe. Ich fand es doof, dass sie nie zufrieden war.
„Lemmeraak?!“, wiederholt er vorsichtig, als habe er ein giftiges Tier auf der Zunge sitzen. „Was ist das?“
Bevor ich jetzt in ausführliche Schilderungen ausbreche, die vermutlich nichts erklären würden, guckt er sich den Gegenstand hinter seinem neuesten Fremdwort besser selbst an. Also sage ich nur: „Ein Schiff.“
„Cool! Zeigst du es mir?“
„Klar, davon rede ich ja. Komm.“ Ich klemme mein Gepäck auf mein Fahrrad, lade mir seinen großen Rucksack auf und packe die große Reisetasche auf mein Gepäck. Cornelius nimmt den Hartschalenkoffer mit Transportrollen und folgt mir.
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