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3. Juni 2016

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„Was hast du denn?“, wundere ich mich, schaue zu ihm hin und erschrecke. Er ist kalkweiß! Mit zwei großen Schritten bin ich bei ihm und halte ihn fest. „Kippst du um?“
„Nein“, bibbert er. (Ja, er bibbert! Ich hätte es nicht für möglich gehalten. Er zittert am ganzen Körper und in seinem Blick ist Entsetzen.)
„Was ist denn los?“
„Da draußen … ist … ein Geist … grau und riesig … und er wollte herein kommen!“
„Ein Geist?“
„Ein Geist.“
Ich muss es ernst nehmen, obwohl ich nicht an graue riesige Geister glaube, die nachmittags über die Terrasse kommen. „In Jesus’ Namen, der Geist hat zu verschwinden!“, befehle ich. Dann fasse ich die Klinke an.
„Tu das nicht, Jeremy, ich … ich will das nicht!“
Er zittert nicht mehr so stark, aber eine lebendige Gesichtsfarbe sieht anders aus.
„Ich hab keine Angst vor Geistern. Jesus ist stärker. Lass mich durch.“
Er flüchtet von der Tür weg. Als ich die Terrasse vor mir sehe, kann ich mir das Lachen nicht verkneifen. Es ist kein grauer Geist, es ist das weiße Pony! Ich lache und halte ihm meine Hände hin. Es macht so ein Pferde-Höhöhö und schnuppert mich ab.
Wir kennen uns, weil ich ihm und seinen beiden Weidefreunden oft Gemüsereste bringe. Vicky hat mich eines Tages auf die Idee gebracht.
Miloš riskiert einen Blick und schnauft erleichtert. „Ich dachte echt, es wäre ein Geist!“
„Wer rechnet schon mit einem Pony im Garten!“, baue ich ihm eine Brücke.
Er nutzt sie. „Schließlich ist das hier kein Zirkus!“
„Na, kann ich es noch?“, frage ich eher mich als ihn, fasse die Mähne und nehme Schwung. Schwupps, sitze ich auf dem Ponyrücken. Ich drücke ihm die Fersen in die Seiten und es geht einen Schritt vorwärts. Miloš weicht eilig aus. Es macht einen langen Hals und will schnuppern, aber er bringt noch mehr Abstand zwischen sich und die Ponynase. Ich treibe es mehr an und es geht eine Runde durch den Garten. Dabei sehe ich, dass auch das braune und das fuchsrote Pony auf dem Trampelpfad unterwegs sind und vermutlich als nächstes unseren Garten erkunden wollen. Im Garten gibt es nichts, was man vor ihrem Appetit schützen müsste, aber ich reite durch unser Heckentor bis auf die Wiese. Dort rutsche ich vom Pony herab, fange auch die beiden anderen Ponys ein (das ist einfach, denn das weiße ist der Anführer und anderen folgen ihm überall hin) und schließe das Tor.
Nach vollbrachter Tat streichele ich die drei noch ein bisschen, denn ich mag das Gefühl von den weichen Nasen, dann schlüpfe ich durch den Zaun und gehe zum Haus zurück.
Miloš starrt mich an, als wäre diesmal ich der Geist.
„Warum guckst du so?“
„Warum kannst du das?“
„Warum sollte ich nicht reiten können?“
„Warum kannst du Sachen, von denen ich keine Ahnung hatte, dass du sie kannst?“
„Warum denkst du, dass du mich schon ganz und gar kennen würdest?“ Wie lange funktioniert ein Gespräch, in dem nur Warum-Fragen gestellt werden?
„Aber warum kannst du reiten?“
„Weil ich als kleiner Junge mit Mommi und Popp auf einem Bauernhof in Urlaub war und da habe ich es gelernt. Vier Jahre lang waren wir jeden Sommer da. Ich hätte allerdings nicht gedacht, dass es noch klappt.“ Etwas anderes interessiert mich mehr: „Warum hast du Angst vor Ponys?“
„Ich habe keine Angst.“
„Du bist ausgewichen, als es auf dich zu gegangen ist.“
„Ich dachte, es wäre ein Geist!“
„Nein, als ich schon oben drauf saß, bist du ausgewichen, also hast du Angst.“
„Habe ich nicht. Ich wollte nur nicht, dass es mich beißt.“
„Es wollte dich ja gar nicht beißen. Es wollte nur mal an dir riechen. Wollte wissen, was für ein Typ du bist.“

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